Stromgitarren in der DDR

Alles zum Wohle des Yeah, Yeah,Yeah! – Artikel & Bilder von Sören Marotz

Der Mangel an brauchbaren Instrumenten und Verstärkern aus einheimischer Produktion ließ viele Musiker zum Lötkolben oder besser gleich zu den großen West-Marken greifen. Schätzungen zufolge lag deren Anteil im Profi-Bereich bei etwa 80 bis 90%. Das Equipment aus dem kapitalistischen Westen wurde somit ironischer weise die Grundlage zum Erfolg im Osten.

„NIEMAND IN UNSEREM STAATE HAT ETWAS GEGEN EINE GEPFLEGTE BEAT-MUSIK“

Irgendwie erinnert der Honecker-Satz über die „gepflegte Beat-Musik” an das „gepflegte Bier” aus dem Zapfhahn in der Eckkneipe. Nur lässt sich weder das Bier noch die Beat-Musik pflegen. Vielmehr wollte Erich Honecker, der letzte Staatsfürst der DDR, gegenüber dem Nachwuchs auf Schmusekurs gehen, schließlich war er als ehemaliger Vorsitzender der FDJ (Freie Deutsche Jugend) der Berufsjugendlichkeit verpflichtet.
Beat-Musik ist nicht pflegbar. Diese Erkenntnis trug Walter Ulbricht im Dezember 1965 auf derselben Veranstaltung (11 . Plenum des ZK der SED) vor, als er die bis dahin florierende Beat-Szene der DDR waidgerecht zerlegte: „Ich bin der Meinung, Genossen, mit der Monotonie des YEAH, YEAH, YEAH und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen … Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen?” Danach war einige Jahre Sendepause für die Jungs mit ihren lärmenden Gitarren.

Ab 1970 begann wieder ein Aufschwung, der bis zur Krise des traditionellen DDR-Rock Ende der achtziger Jahre anhielt und auch von der Ausbürgerung Wolf Biermanns nicht nen-nenswert gestoppt werden konnte.

Diese Krise hing wesentlich mit der beginnenden Implosion des Landes zusammen, die Ursachen waren zum Teil auch hausgemacht. So wurde Rock-Musik im Voraus, oft von der FDJ, eingekauft und bezahlt, egal wie viele Zuhörer erwartet wurden. Auch der Konkurrenzdruck war gering. Sobald sich Rock-Musiker in ein bestimmtes Schema eingeordnet hatten, gab es feste Gagen für die „Muggen”. Entscheidend für deren Höhe war die „Einstufung” (Spielberechtigung). Dieses an sich aberwitzige System, das die Instrumentenbeherrschung und nicht den Publikumserfolg bewertete, sorgte für eine böse Diskrepanz: „Die Bomhastjauler EIektra z. B. spielten im Berliner Kulturpark vor dreißig Zuschauern für weit mehr als 7000 Mark, während Konzerte von „Die anderen’“ und „Die Art“ immer überfüllt waren …” schrieb Heinrich Hecht 1999 in der Zeitung „Junge Welt”. Hier entstand parallel zu den etablierten Alt-Rockern eine neue Szene, die sich nicht integrieren lassen wollte. „In beiden Lagern wurde sich totgemuggt … West-Bands purzelten nach der Wende ins Essen, wenn ihnen Zwanzigjährige erzählten, sie hätten 1500 Konzerte absolviert …” schrieb Hecht dazu weiter.

Während die FDJ ab 1987 in Berlin große Rock-Konzerte mit internationalen Musikern veranstaltete, wollte die Cottbusser Punk-Band Sandow mit Ihrem Song „Born In The GDR“ (der Titel bezog sich auf Bruce Springsteens „Born In The USA“) hierzu einen Gegenpol schaffen. Der Film „Flüstern & Schreien – Ein Rock-Report” (1988), der die Gruppen Feeling B, Silly, Chicoree und eben Sandow porträtierte, skizzierte die Deformation des Arbeiter- und Bauernstaates. „Wo wir gespielt haben, brannte die Luft und die Dielen wurden herausgeruppt für ein paar schräge Akkorde und die Wahrheit gratis dazu.

Dieses ständige Improvisieren, dieses Leben als gerechter Indianer und dieser imaginäre Druck einer Staatsmacht vermittelten einem viel mehr amerikanische Werte vom freien Leben, als dem Osten je lieb war und im Westen je erfahrbar sein wird”, stellt Kai-Uwe Kohlschmidt von Sandow treffend fest. Ob staatstragend oder systemkritisch, das war also nicht die Frage: Die E-Gitarre gehörte bei protegierten Gruppen (Puhdys, Karat, City), wie auch bei unangepassten Combos (Renft, Feeling B, Sandow) einfach dazu. Die Beschaffung des Equipments dagegen spielte eine besondere Rolle, die nachfolgend näher betrachtet wird.

West- Gitarren im rockenden 0sten

Der Mangel an brauchbaren E-Gitarren, Effektgeräten und Verstärkern einheimischer Produktion sowie deren geringes Prestige ließ fast alle Profi-Musiker zu den großen Namen wie Fender oder Gibson greifen. Aber auch mit einer Ibanez machte man schon ordentlich was her. Die meisten Instrumente und Zubehörteile wurden vermutlich von der Oma oder dem Westonkel als Geschenk in die DDR mitgebracht. Problematisch war es jedoch, dem spendablen, aber technisch unbedarften Verwandten zu benennen, welcher Artikel aus dem großen Angebot konkret gewünscht war. Prospekte oder gar Preislisten standen kaum zur Verfügung.
Eine andere Möglichkeit bestand darin, sich die Traumgitarre im Westen selbst zu kaufen oder sie sich mitbringen zu lassen. Dafür war jedoch Westgeld von Nöten, das teuer auf dem Schwarzmarkt eingetauscht oder im Westen erspielt werden musste. So kaufte sich Uwe Hassbecker (Stern Meissen, Gitarreros, Silly) 1977 anlässlich eines Auftrittes im Westberliner Quartier Latin eine Ibanez im Les-Paul-Look. D-Mark oder genauer Forum-Schecks brauchte auch, wer im Musiker-Intershop in Berlin-Altglienicke einkaufen wollte. In den späten 70er Jahren stand der Kurs noch bei 1:4, Ende der 80er zum Teil schon bei 1:10. Die Anschaffung einer E-Gitarre für 800 DM konnte so durchaus das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Arbeiters verschlingen.
Daneben soll es auch offiziell über das Kulturministerium bezogene West-Gitarren gegeben haben. Diese Bezugsform war aber sicher noch seltener als die Art, wie Uwe Hassbecker seine Ibanez  
Roadstar erhielt: Er bekam sie 1987 als Gage für seine Studiomusiker-Parts auf der Solo-LP von Quaster (Puhdys).
Natürlich konnte man auch versuchen, die Wunsch-Gitarre über den staatlichen An- und Verkauf oder von einem Musiker für DDR-Mark zu kaufen. Toni Krahl (Gitarrist der Gruppe City) zum Beispiel war eine beliebte Anlaufstelle bei Instrumentenwünschen. Vielfach ging die Gage der Bands drauf, um Kredite für die Musikanlage abzuzahlen und Instrumente zu kaufen. Trotzdem musste keiner am Hungertuch nagen, schließlich ließ sich auch der alte Kram weiterverkaufen. Zuerst aber brauchte man eine „Einstufung” (Spielberechtigung), um sich zum Beispiel einen 120Watt-Peavey-Combo-Amp für stolze 6000 DDR-Mark erspielen zu können.

Volkseigene Gitarren

Die beschauliche Kleinstadt Markneukirchen im Vogtland war im umzäunten Teil Deutschlands das Zentrum des Musikinstrumentenbaus. Dieser Produktionszweig blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten. 1953 erfolgte die Gründung des VEB Musikinstrumentenbau Markneukirchen (Musima).

Hier wurden, neben vielen anderen Musikinstrumenten, seit den 60er Jahren E-Gitarren in Serie hergestellt. Instrumentenverstärker und sonstige Bühnentechnik wurden in erster Linie im VEB Vereinigte Mundharmonikawerke (Vermona) in Klingenthal gebaut. Anders als bei den akustischen Gitarren oder den Geigen, wo die handwerkliche Produktion immer eine bedeutende Rolle spielte, wurde die E-Gitarrenproduktion der Musima 1967 in einen DDR-Zweckbau am Stadtrand von Markneukirchen verlegt, der das Hauptgebäude des volkseigenen Betriebes darstellte. Bis dahin produzierte man bereits in einem unscheinbar wirkenden Wohnhaus im Zentrum der Stadt.

Die Vielfalt der Baureihen und Modellbezeichnungen mag anfangs Erstaunen hervorrufen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Unterschiede zwischen den Modellen oft marginal waren und schon geringe Ausstattungsänderungen zu neuen Bezeichnungen führten. Bundesdeutsche Firmen wie Höfner oder Framus agierten da nicht anders. Einzelne Modelle konnten sich, von Ausnahmen abgesehen, nur schwer etablieren. So sind die Musima Modellreihen Eterna, Elgita, Elektra oder Record meist nur Insidern bekannt.

Etwas anders sieht es mit den zuletzt produzierten Modellreihen aus. Kurt Fiedel, letzter Betriebsdirektor der Musima, stellte Ende der 80er Jahre die Leadstar, den Action-Bass sowie das Modell Heavy vor. Speziell die Leadstar ist heute noch ab und an in Proberäumen zu finden, zog doch hier die Qualität noch einmal an. Zuvor wurden vor allem klobige Hälse, unsauber verarbeitete Bundstäbe sowie simple Mechaniken bemängelt. Ob die insgesamt niedrige Qualität eine Folge der „volkseigenen Produktionsweise” oder des allgemein geringen staatlichen Interesses für E-Gitarren war, ist sicher in hohem Maß Spekulationssache. Die Frage, ob die Instrumentenbauer nicht wollten, nicht konnten oder nicht durften, ist aber letzten Endes so müßig wie die Klage darüber, dass der Trabant zum Schluss schon als Oldtimer ausgeliefert wurde.

Eigenbauten & Meisterstücke

Ohne West-Bühnentechnik war man am Basteln. In jeder Band verstand sich zumindest einer der Musiker darauf. Alles was fehlte, wurde abenteuerlich zusammengelötet. Auch wenn sich die Lage spätestens seit den 80er Jahren etwas entspannte, blieb ein grundlegender Mangel an Equipment aus eigener Produktion bis zum Ende der DDR bestehen.

Bevor 1965 die erste Beat-Platte der DDR mit E-Gitarrenmusik erschien, fühlte sich ein auf diesem Album vertretener Gitarrist von der staatlichen Produktion besonders benachteiligt: Dieter Franke vom Franke-Echo-Quintett. Franke spielte damals eine selbstgebaute dreihalsige (!) E-Gitarre.
In der Ausgabe Nr. 23 der Zeitschrift Melodie und Rhythmus von 1964 beklagte er sich darüber, dass der Handel ausschließlich ungeeignete Resonanzgitarren anbot: „…empfindliche Tonabnehmer, gut ansprechende Glissando-Hebel, niedrigste Saitenlage sowie flache Bünde und Hälse waren nun aber einmal Voraussetzung für den im Kommen be-findlichen Gitarren-Sound”. Die Gruppe bediente den Lötkolben anscheinend nicht weniger virtuos als ihre Instrumente, stellte der Autor Michael Rauhut dazu in seinem Buch „Rock in der DDR” richtig fest.

Im Handwerksbereich gab es jedoch auch exzellente Gitarrenbauer, die meist auf Bestellung arbeiteten. Sie wurden in Produktionsgenossenschaften des Handwerks, wie der PGH Marma (Markneukirchen-Mainz) zusammengefasst, waren also nicht dem VEB Musima zugeordnet. Über die Musikinstrumenten-Handwerker-Genossenschaft Migma e.G., die seit 1943 besteht, wurde der ge¬meinsame Einkauf und Vertrieb abgewickelt, während der Export über die Demusa GmbH (Deutsche Musikinstrumenten- und Spielwaren Außenhandels-Gesellschaft mbH) vorge¬nommen wurde. Der chronische Devisen mangel der DDR und die Handelsverpflichtungen mit der Sowjetunion führten dazu, dass kaum gute Musikinstrumente im Land blieben.

Obwohl sie nicht eigenständig auf Messen in Erscheinung treten konnten, waren die Werkstätten von Otto Windisch (Otwin), Oswald-Bachmann-Markneukirchen (Osbama) und Heinz Seifert gefragte Adressen für handgemachte Jazz-Gitarren mit Tonabnehmern. Vor allem der 2002 verstorbene Heinz Seifert baute individuelle Instrumente auf Bestellung und entwickelte sich zu einer Anlaufstelle für DDR-Musiker, die sich auch Westgitarren von ihm nachbauen ließen. Dass diese Tradition nach der Wende im Vogtland abriss, lag nicht nur an den veränderten Marktbedingungen, sondern auch daran, dass viele Handwerksmeister bereits nicht mehr am Leben waren oder ihr Glück in den alten Bundesländen suchten.

Was blieb übrig?

Direkt nach der Wende führte das Wegbrechen der Märkte im Osten, wie im ehemaligen Westen zu einer schnellen Auflösung des E-Gitarrenbaus. Zum Teil konnte auf eine andere Produktion umgestellt werden. So brachte es die neue Lage am heimischen Markt mit sich, dass in Schöneck (Vogtland) nun Satellitenanlagen statt Musikinstrumente hergestellt wurden.
Wer heute nach Spuren der DDR-Stromgitarrenproduktion im vogtländischen Musikwinkel sucht wird wahrscheinlich wenig Erfolg haben oder bei Warwick bzw. Framus in Markneukirchen landen. Der Traditionsbetrieb aus dem Fränkischen siedelte sich nach der Wende hier im Gewerbegebiet an.

Das Hauptgebäude der Musima in Markneukirchen steht zwar noch, die Produktion von akustischen Gitarren wurde aber 2003 eingestellt, da die Musima Bärwinkel KG als letzter Nachfolger Konkurs anmelden musste und eine Übernahme nicht in Sicht ist.
Selbst im Musikinstrumentenmuseum Markneukirchen reicht der Platz nicht aus, um die vorhandenen E-Gitarren auszustellen. So bleiben nur einzelne museale Initiativen wie 2003 eine Ibanez-Sonderausstellung im Technischen Landesmuseum Schwerin oder die Präsentation des Basses von Klaus Jentzsch (Gruppe „Renft”) im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Eine Sammlerszene, wie es sie in der alten Bundesrepublik gab, war in der DDR nicht auszumachen, da die spielbereiten Instrumente selten ungenutzt blieben.

Die Sonderausstellung “STROMgitarren” zur Kulturgeschichte der E-Gitarre ist von 2004-2006 in Mannheim, Berlin und Bern gezeigt worden. Sie war eine Gemeinschaftsproduktion des Landesmuseum für Technik und Arbeit Mannheim und des Deutschen Technikmuseums Berlin. Sören Marotz, Autor des Katalogartikels zum E-Gitarrenbau in der DDR war als Kurator an der Ausstellung mit beteiligt.

"Sören Marotz hat anlässlich des Tanz- und Folkfestes Rudolstadt auch die Ausstellung "E-Gitarren aus dem Vogtland" gemacht, die erstmals einen Querschnitt elektrisch verstärkter Gitarren ostdeutscher Produktion gezeigt hat."

„Kohldampf“ mit Gitarrensoli

Nachkriegsabitur im Musikwinkel unter abenteuerlichen Umständen
Von Helmar Meinel, Köln

Markneukirchener Oberschüler, die in den ersten Nachkriegsjahren ihr Abitur abgelegt haben, müssten auf die Frage, für welches Fach sie damals die meiste Zeit zur Vorbereitung auf das Examen aufwenden mussten, wahrheitsgemäß antworten: fürs Eisenbahnfahren. Die An- und Abreisen zum Unterricht in der „Deutschen Einheitsschule“ (dem heutigen Julius-Mosen-Gymnasium) in der Kreisstadt Oelsnitz waren nach 1945 ein täglich neues Abenteuer. Ähn-liche Zustände heute wären ein Fall für die Menschenrechtskommission und den Kinder-schutzbund – es mußten ja auch erst zehnjährige Schülerinnen und Schüler die Strapazen ertragen.

Und doch hatten die Fahrschüler aus dem Musikwinkel ein besonderes Privileg, das aus der Vertreibung der Langeweile unterwegs duch eine Handvoll besonders musisch begabter Mitschüler bestand. Die spielten trotz klammer Finger unterwegs munter auf ihren mitgeführten Instrumenten auf und verkürzten so die Zeit. Der Star unter ihnen war der später im Westen berühmt gewordene Gitarrenbauer Dieter Hense (Jahrgang 1929), der als Gitarrist der damals im Vogtland gefeierten Kultband „Die weißen Raben“ immer die neuesten Hits bis hin den beliebten, aber in der Sowjetzone eigentlich verbotenen amerikanischen Swingversionen im Programm hatte.

Besonders in dem harten Winter 1946/47 mit Temperaturen bis 15 Grad minus waren die Fahrschüler aus dem Musikwinkel schlimmen Zuständen ausgesetzt. In den klapperigen, oft ungeheizten und unbeleuchteten Zügen drängten sich die Fahrgäste wie die Heringe in der Dose. Verspätungen bis zu vier Stunden waren an der Tagesordnung. Wartezeiten von einer Stunde beim Umsteigen auf dem zugigen Adorfer Bahnhof galten als normal. Blieb der schwer prustende Zug mit der Dampflokomotive in Hundsgrün in einer Schneewehe stecken, wurde er von den umliegenden Bauern, die im langweiligen Winter nur auf ein wenig Abwechslung warteten, freigeschippt.

Aber die Beförderungsmisere wurde von den Pennälern aus dem Musikwinkel ohnehin ideenreich angegangen. Als wir einmal den Lastwagen eines Kohlenhändlers aus Mark-neukirchen in den Nähe der Schule entdeckten, bekamen wir von Oberstudiendirektor Karl Claus für den Rest des Tages schulfrei, um uns auf der Brikettladung nach Hause kutschieren zu lassen. Wir sahen hinterher aus wie die Essenkehrer. Als Anhalter bei einem Zugausfall nahm uns ein russischer Armeelaster mit. Auf der offenen Ladefläche entzückten wir unsere Sowjet-Chauffeure unter dem immer zu einem Jokus aufgelegten Mitschüler Maxi Adler als Dirigenten mit russischen Gesängen wie „Sei gegrüßt, Rote Armee!“, aber auch jugendlich unverfroren mit suspekten alten Liedern aus der Hitlerjugend. Der Towarisch am Steuer sang begeistert mit, und erst als er uns kurz vor Adorf die von ihm und seinem Beifahrer schon halb geleerte Wodkaflasche nach hinten reichte, wurde es uns etwas mulmig. (Max Adler, Familienerbe der Markneukirchener Firma Johannes Adler, machte nach seiner Flucht in den Westen nach Bräuningshof bei Erlangen 1959 in der Musikwelt von sich reden, als ihm das Patent Nr. 1792819 zur Herstellung von zerlegbaren und zargenlosen Gitarren erteilt wurde).

Die Vorbereitungen für die ersten Abiturprüfungen nach der Wiederaufnahme des Schulbetriebs am 1.Oktober 1945 fanden in jeder Beziehung unter Ausnahmebedingungen statt, die heute nur schwer vorstellbar sind. Von ein paar gut genährten Bauernjungen abge-sehen, schoben alle Fahrschüler aus dem Musikwinkel „Kohldampf“. Mittags wurden von zu Hause mitgebrachte „Dittscherle“, aus Mehl oder Kartoffeln und meist ohne Fett ausge-backene handgroße Fladen, auf den Heizkörpern in der Klasse aufgewärmt – falls diese funk-tionierten. Die Markneukirchener Textilhändlerin Gertrud Camphausen konnte sich damals nicht erklären, wieso plötzlich ihre alten Bestände an „Stopfpilzen“ aus einer Wachs- und Stearinmischung, mit deren Hilfe die feinen Damen eigentlich ihre Laufmaschen in den Seidenstrümpfen fixieren sollten, reißend weggingen: damit wurden mangels Butter oder Margarine die Bratpfannen ausgeschmiert. Schon als fürstlich galt bei den Oberschülern die Einnahme einer dünnen, mit Unmengen von Majoran gewürzten „Zoudelsupp“ im Hotel „Stadt Dresden“ in Oelsnitz, die man gegen Abgabe von drei rohen Kartoffeln von einem hochnäsigen Oberkellner serviert bekam.

Die Überlebensstrategien, die das ganze Land erfasst hatten, übertrugen sich auch auf die Abiturienten. Zeitweise glichen die Oberklassen einer Schwarzmarktzentrale. Es wurde getauscht und verscherbelt, was nicht niet- und nagelfest war. Ami-Zigaretten, das Stück zu acht Mark, gegen Butter, Schnaps gegen Zement, Zigarren aus Schöneck gegen Büstenhalter. aus Oelsnitz. Die Markneukirchener lagen im Vorteil, wenn sie Instrumente von der Block-flöte bis zur Mandoline besorgen konnten

Höhepunkt der illegalen Beschaffungsaktivität im Schulwesen war der Tag, an dem in der Lateinstunde unvermittelt ein in einem Kartoffelsack unter der Bank versteckter lebender Hahn mit fröhlichem „Kikeriki“ loskrähte. Wolfgang Schneider aus dem ländlichen Taltitz hatte das Zuchttier für den Klassenkameraden Erich Lang aus Bad Elster zum Tausch gegen einem aus Roßbach „gepaschten“ Anzugstoff eingeschmuggelt. Das „Hallo“ in der Klassse war riesengroß, und unsere hübsche blonde Lehrerin Wera Kohlenz, frisch von der Universität Prag im vogtländischen Schuldienst gelandet, jünger als mancher ihrer Schüler und wegen ihrer kurvenreichen Figur von den Flegeln in der Klasse frech als „Fräulein Lehrkörper“ angesprochen, hatte alle Mühe, zu den alten Lateinern zurückzufinden.

Die außergewöhnlichen Alltagsumstände wirkten sich jedoch erstaunlich wenig auf das Lernpensum und die Intensität des Unterrichts aus. Knifflige mathematische Gleichungen wurden bibbernd im umgefärbten Soldatenmantel mit hochgeschlagenem Kragen und Woll-mütze an der Tafel gelöst. Der betagte und durch die Flucht aus dem Osten total verarmte Professor Hartmann verschlang derweil ungeniert am Pult sein ihm von einem Schüler aus Mühlhausen regelmäßig spendiertes Pausenbrot. Da es keine neuen Bücher gab, versorgte mein Banknachbar Peter-Emil Rupp die halbe Schule mit Literatur aus dem Bestand seines Vaters. (Als der spätere Ehrenbürger der Kreisstadt, der als Automobilmanager in allen fünf Erdteilen gewirkt hatte, im Jahr 2006 starb, vermachte er seine Privatbibliothek mit über 10.000 Bänden seiner alten Schule). Der Lehrstoff wurde erstaunlich zügig bewältigt, denn alle hatten nur ein Ziel: möglichst schnell die im Krieg verlorene Zeit aufzuholen, um mit dem Reifezeignis ins langsam erwachende Leben zu treten.

Dabei hatten wir älteren Prüflinge (der älteste war ein 32jähriger Major a.D. und Träger des „Deutschen Kreuzes“ in Gold) bereits ein Abitur in der Tasche. Das sogenannte „Notabitur“ mit Berechtigung zum Studium war uns Oberschülern der Jahrgänge 1923 bis 1928 im Krieg „nachgeworfen“ worden, wenn wir zur Flak oder zur Wehrmacht eingezogen wurden. Nach dem Krieg stellte sich dieser „Reifevermerk“ als wertloser „Wisch“ heraus, und die Prüfung mußte nachgeholt werden. Es gab sogar Pechvögel, die es auf gleich drei Reifezeugnisse brachten: wer später in den Westen ging, wo das vorher in der Sowjetzone nachgeholte Abitur nur bis zum Stichjahr 1949 anerkannt wurde, mußte sich ein drittes Mal dem Examen unterziehen.

Die Bilanz des einfach, doppelt oder gar dreifach genähten Abiturs in den schweren Nach-kriegsjahren fiel bei den Klassentreffen zum „Goldenen“ und „Diamantenen Abitur“ nach der Wiedervereinigung durchweg positiv aus. Aus allen war „was geworden“. Der Oelsnitzer Abiturjahrgang 1948 stellte gleich fünf Professoren, 16 Doktoren und Ehrendoktoren und einen Nationalpreisträger. Rang eins stand mit einer Nominierung für den Nobelpreis unan-gefochten unserem Klassenkameraden Eberhard Zeitler aus Bad Elster zu, der erst einmal Bäcker gelernt hatte, ehe aus ihm ein angesehener Medizinprofessor und hochkarätiger Wis-senschaftler mit weltweit anerkannten Pionierleistungen zur Herzkatheteruntersuchung wurde. Als ein personifizierter Treppenwitz der Schulgeschichte mußte ausgerechnet er damals fürs heiß begehrte Abitur noch eine „Ehrenrunde“ drehen. Aber vielleicht hatte er ja auch nur den seit Generationen beliebten Übersetzungssatz aus der Unterstufe Latein zu wörtlich genom-men: „Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir.“

Hier gibt es bei Wikipedia mehr Informationen über den Kölner Autor Helmar Meinel!

Russenschnäppchen im Musikwinkel von Helmar Meinel

Für den kräftigen Marsch, der den Deutschen nach dem Krieg von den Siegern geblasen werden sollte, mussten die Verlierer auch noch selber die Pauken und Trompeten stellen, jedenfalls bei den Russen. Als Reparation verlangte die Sowjetunion von 1946 bis 1949 die Lieferung von über 50.000 Musikinstrumenten aus ihrer Besatzungszone, darunter die kompletten Ausstattungen für 500 Blasorchester. Helmar Meinel beobachtete damals die Transporte.

alte Postkarte

Schauplatz der musikalischen Zwangsvollstreckung war der sogenannte Musikwinkel im idyllischen Vogtland mit den Städtchen Markneukirchen und Klingenthal an der tschechischen Grenze im südlichsten Zipfel der Ostzone. Dort, wo seit dem 17.Jahrhundert der Instrumentenbau Namen und Klang hatte und in nahezu jedem Haus von Generation zu Generation weitervererbt wurde, lag das künstlerische Handwerk 1945 völlig am Boden. Vom einstigen Glanz Markneukirchens, der um 1900 im Verhältnis zur Einwohnerzahl reichsten Stadt Deutschlands mit vielen Millionären und einem eigenen US-Konsulat für die regen Exportbeziehungen, war fast nichts geblieben. Vorbei die Zeiten, als aus dem Musikwinkel 80 Prozent aller in der Welt gespielten Orchesterinstrumente kamen.

Meinel & Herold Katalog

Die Meister waren im Krieg gefallen, saßen in Gefangenschaft oder hatten sich schon in den Westen abgesetzt, als sich im Sommer 1945 die Amerikaner vereinbarungsgemäß aus dem Vogtland nach Bayern zurückzogen und die Rote Armee mit Pferd und Panjewagen nachrückte. Die neuen Besatzer mit ihrer kindlichen Freude am Musizieren, aber auch der Wertschätzung der künstlerischen Arbeit der Instrumentenbauer als Teil der “Kultura” kümmerte die desolate Lage des Gewerbes nicht. Die Reparationsorder für Markneukirchen lautete: Ablieferung von jährlich 3000 Gitarren, 2000 Mandolinen, 500 Balalaikas, 500 Domras (das sind dreisaitige russische Zupfinstrumente) und, schier unmöglich, die komplette Ausstattung von 125 Blasorchestern zu je 23 Instrumenten von der Tuba bis zur Piccoloflöte. Aus Klingenthal kamen Tausende Exemplare des beliebtesten russischen Volksinstruments, der Ziehharmonika, hinzu.

Die Russen waren keineswegs auf industrielle Massenware aus, sondern verlangten höchste Qualität. In den meist als Familienunternehmen geführten Werkstätten fehlte es jedoch an allen Ecken und Kanten. Es gab kein Edelholz, kein Buntmetall und kein neues Werkzeug. Die Genossenschaft der Musikstadt musste eigens einen Beschaffer, einen “Materialnik”, einstellen. Die Wahl fiel auf den umsichtigen Heimkehrer Herbert Roth, der dann in der gesamten Ostzone herumgeisterte, um etwas zu ergattern. Wenn er von der vorgesetzten Dienststelle der Sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD) in Berlin-Karlshorst oder in Dresden Beistand wollte, stieß er auf ein spezielles System, um sich Bittsteller vom Leibe zu halten. Die Russen hatten sich nämlich nicht nur die Einführung der Weltrevolution in ihrer Zone vorgenommen, sondern auch noch gleich eine weitere Geisel der Menschheit erfunden: die erste “Hotline” der Geschichte. Wie sie funktionierte, schilderte der 2009 verstorbene Zeitzeuge Roth in seinen nachgelassenen privaten Aufzeichnungen:

“An der Hauswand des Gebäudes – wir sprachen damals von der Klagemauer – hingen ein paar Telefonhörer, und damit musste man sich einen Gesprächspartner im Gebäude suchen, was aufgrund der Sprachschwierigkeiten nicht ganz leicht war. Nun lag es in dessen Gunst, vom Einlassdienst einen Passierschein ausfertigen zu lassen. Darauf konnte man bei Wind und Wetter nochmals eine Stunde oder länger warten. Hatte man den Zutritt erreicht, erhielt man bestenfalls einen Bezugschein für eine bestimmte Menge Buntmetall, und das war weiter nichts als ein Stück wertloses Papier.”

Den regelmäßigen Lieferterminen sahen die deutschen Zwangsproduzenten im Vogtland stets mit höchster Anspannung entgegen. Herbert Roth fasste es in einem Satz zusammen: “Die Prüfer konnten sehr gefährlich werden!” Die Russen fuhren mit großen, oft offenen Armeelastwagen mit einem Offizier und vier bis fünf Rotarmisten vor. Die Sichtung der Ware erfolgte in Stichproben und war sehr penibel. Einer der Offiziere, vom Gemüt klassischer russischer Choleriker, pflegte, wie sich Roth noch 50 Jahre später aufregte, beanstandete Instrumente zornentbrannt und fluchend auf den Fußboden zu werfen und mit seinen Stiefeln im Stakkato zu Kleinholz zu zerlegen, auch wenn sie vielleicht nur einen kleinen Lackschaden aufwiesen. “Stalinorgel” war der heimliche Spitzname dieses Wüterichs.

Für den weiten Transport der empfindlichen Instrumente waren die Russen weniger pingelig. Sie verlangten weder die üblichen Etuis noch Kisten, sondern schichteten die Mandolinen oder Gitarren einfach in Papiersäcken akkurat Reihe für Reihe auf die Lastwagen und legten obendrauf lediglich eine Lage Wellpappe. Als Krönung der sowjetischen Verpackungskunst machte es sich für die Fahrt dann manchmal noch ein robuster Rotarmist auf den Instrumenten gemütlich – nicht ohne die geschröpften Deutschen mit einem zu Herzen gehenden Abschiedslied des Genres “Kalinka, Kalinka…” und manchmal sogar einem Salutschuss aus seiner Kalaschnikow zu verwöhnen. “Mandolinenbomber” nannten wir damaligen Oberschüler diese Gefahrentransporte, auf denen uns die Russen schon mal großmütig als „Fahrschüler“ mit in die Kreisstadt nahmen.

Höhepunkt der Übergabezeremonie war immer die “Weihnachtsbescherung”. Der Kommandoführer, schilderte Roth die bewegende Zeremonie, öffnete eine streng bewachte dicke Ledertasche und kippte den Inhalt auf den Tisch: 50.000 bis 60.000 mehr oder weniger wertlose alte Reichsmark und später Ostmark gab es als Almosen für die Instrumentenbauer – damit es nicht ganz so nach sozialistischer Ausbeutung aussah. Die gelieferten Instrumente waren in der Regel das Zehnfache, auf dem schwarzen Markt noch viel mehr wert.

Die letzte Lieferung der Schnäppchen aus dem Musikwinkel ging 1949 in die Sowjetunion. Nach der Gründung der DDR im Oktober dieses Jahres verzichtete Moskau auf die Reparationen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2001, schloß sich für mich als Urlauber und ehemaliger Zeitzeuge der musikalischen Kriegsbeute aus dem Vogtland zufällig der Kreis. Als das Kulturensemble der russischen Schwarzmeerflotte auf dem in Sewastopol ankernden deutschen Kreuzfahrtschiff MS “Europa” für gute Devisen vom ehemaligen Klassenfeind ein glanzvolles, umjubeltes Konzert gab, konnte ich in der Pause an einigen der abgestellten und gut gepflegten Instrumente eindeutig Markneukirchener Brand- oder Prägestempel und sogar Meisterzettel entdecken.

Hier gibt es bei Wikipedia mehr Informationen über den Kölner Autor Helmar Meinel!

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