„Kohldampf“ mit Gitarrensoli

Nachkriegsabitur im Musikwinkel unter abenteuerlichen Umständen
Von Helmar Meinel, Köln

Markneukirchener Oberschüler, die in den ersten Nachkriegsjahren ihr Abitur abgelegt haben, müssten auf die Frage, für welches Fach sie damals die meiste Zeit zur Vorbereitung auf das Examen aufwenden mussten, wahrheitsgemäß antworten: fürs Eisenbahnfahren. Die An- und Abreisen zum Unterricht in der „Deutschen Einheitsschule“ (dem heutigen Julius-Mosen-Gymnasium) in der Kreisstadt Oelsnitz waren nach 1945 ein täglich neues Abenteuer. Ähn-liche Zustände heute wären ein Fall für die Menschenrechtskommission und den Kinder-schutzbund – es mußten ja auch erst zehnjährige Schülerinnen und Schüler die Strapazen ertragen.

Und doch hatten die Fahrschüler aus dem Musikwinkel ein besonderes Privileg, das aus der Vertreibung der Langeweile unterwegs duch eine Handvoll besonders musisch begabter Mitschüler bestand. Die spielten trotz klammer Finger unterwegs munter auf ihren mitgeführten Instrumenten auf und verkürzten so die Zeit. Der Star unter ihnen war der später im Westen berühmt gewordene Gitarrenbauer Dieter Hense (Jahrgang 1929), der als Gitarrist der damals im Vogtland gefeierten Kultband „Die weißen Raben“ immer die neuesten Hits bis hin den beliebten, aber in der Sowjetzone eigentlich verbotenen amerikanischen Swingversionen im Programm hatte.

Besonders in dem harten Winter 1946/47 mit Temperaturen bis 15 Grad minus waren die Fahrschüler aus dem Musikwinkel schlimmen Zuständen ausgesetzt. In den klapperigen, oft ungeheizten und unbeleuchteten Zügen drängten sich die Fahrgäste wie die Heringe in der Dose. Verspätungen bis zu vier Stunden waren an der Tagesordnung. Wartezeiten von einer Stunde beim Umsteigen auf dem zugigen Adorfer Bahnhof galten als normal. Blieb der schwer prustende Zug mit der Dampflokomotive in Hundsgrün in einer Schneewehe stecken, wurde er von den umliegenden Bauern, die im langweiligen Winter nur auf ein wenig Abwechslung warteten, freigeschippt.

Aber die Beförderungsmisere wurde von den Pennälern aus dem Musikwinkel ohnehin ideenreich angegangen. Als wir einmal den Lastwagen eines Kohlenhändlers aus Mark-neukirchen in den Nähe der Schule entdeckten, bekamen wir von Oberstudiendirektor Karl Claus für den Rest des Tages schulfrei, um uns auf der Brikettladung nach Hause kutschieren zu lassen. Wir sahen hinterher aus wie die Essenkehrer. Als Anhalter bei einem Zugausfall nahm uns ein russischer Armeelaster mit. Auf der offenen Ladefläche entzückten wir unsere Sowjet-Chauffeure unter dem immer zu einem Jokus aufgelegten Mitschüler Maxi Adler als Dirigenten mit russischen Gesängen wie „Sei gegrüßt, Rote Armee!“, aber auch jugendlich unverfroren mit suspekten alten Liedern aus der Hitlerjugend. Der Towarisch am Steuer sang begeistert mit, und erst als er uns kurz vor Adorf die von ihm und seinem Beifahrer schon halb geleerte Wodkaflasche nach hinten reichte, wurde es uns etwas mulmig. (Max Adler, Familienerbe der Markneukirchener Firma Johannes Adler, machte nach seiner Flucht in den Westen nach Bräuningshof bei Erlangen 1959 in der Musikwelt von sich reden, als ihm das Patent Nr. 1792819 zur Herstellung von zerlegbaren und zargenlosen Gitarren erteilt wurde).

Die Vorbereitungen für die ersten Abiturprüfungen nach der Wiederaufnahme des Schulbetriebs am 1.Oktober 1945 fanden in jeder Beziehung unter Ausnahmebedingungen statt, die heute nur schwer vorstellbar sind. Von ein paar gut genährten Bauernjungen abge-sehen, schoben alle Fahrschüler aus dem Musikwinkel „Kohldampf“. Mittags wurden von zu Hause mitgebrachte „Dittscherle“, aus Mehl oder Kartoffeln und meist ohne Fett ausge-backene handgroße Fladen, auf den Heizkörpern in der Klasse aufgewärmt – falls diese funk-tionierten. Die Markneukirchener Textilhändlerin Gertrud Camphausen konnte sich damals nicht erklären, wieso plötzlich ihre alten Bestände an „Stopfpilzen“ aus einer Wachs- und Stearinmischung, mit deren Hilfe die feinen Damen eigentlich ihre Laufmaschen in den Seidenstrümpfen fixieren sollten, reißend weggingen: damit wurden mangels Butter oder Margarine die Bratpfannen ausgeschmiert. Schon als fürstlich galt bei den Oberschülern die Einnahme einer dünnen, mit Unmengen von Majoran gewürzten „Zoudelsupp“ im Hotel „Stadt Dresden“ in Oelsnitz, die man gegen Abgabe von drei rohen Kartoffeln von einem hochnäsigen Oberkellner serviert bekam.

Die Überlebensstrategien, die das ganze Land erfasst hatten, übertrugen sich auch auf die Abiturienten. Zeitweise glichen die Oberklassen einer Schwarzmarktzentrale. Es wurde getauscht und verscherbelt, was nicht niet- und nagelfest war. Ami-Zigaretten, das Stück zu acht Mark, gegen Butter, Schnaps gegen Zement, Zigarren aus Schöneck gegen Büstenhalter. aus Oelsnitz. Die Markneukirchener lagen im Vorteil, wenn sie Instrumente von der Block-flöte bis zur Mandoline besorgen konnten

Höhepunkt der illegalen Beschaffungsaktivität im Schulwesen war der Tag, an dem in der Lateinstunde unvermittelt ein in einem Kartoffelsack unter der Bank versteckter lebender Hahn mit fröhlichem „Kikeriki“ loskrähte. Wolfgang Schneider aus dem ländlichen Taltitz hatte das Zuchttier für den Klassenkameraden Erich Lang aus Bad Elster zum Tausch gegen einem aus Roßbach „gepaschten“ Anzugstoff eingeschmuggelt. Das „Hallo“ in der Klassse war riesengroß, und unsere hübsche blonde Lehrerin Wera Kohlenz, frisch von der Universität Prag im vogtländischen Schuldienst gelandet, jünger als mancher ihrer Schüler und wegen ihrer kurvenreichen Figur von den Flegeln in der Klasse frech als „Fräulein Lehrkörper“ angesprochen, hatte alle Mühe, zu den alten Lateinern zurückzufinden.

Die außergewöhnlichen Alltagsumstände wirkten sich jedoch erstaunlich wenig auf das Lernpensum und die Intensität des Unterrichts aus. Knifflige mathematische Gleichungen wurden bibbernd im umgefärbten Soldatenmantel mit hochgeschlagenem Kragen und Woll-mütze an der Tafel gelöst. Der betagte und durch die Flucht aus dem Osten total verarmte Professor Hartmann verschlang derweil ungeniert am Pult sein ihm von einem Schüler aus Mühlhausen regelmäßig spendiertes Pausenbrot. Da es keine neuen Bücher gab, versorgte mein Banknachbar Peter-Emil Rupp die halbe Schule mit Literatur aus dem Bestand seines Vaters. (Als der spätere Ehrenbürger der Kreisstadt, der als Automobilmanager in allen fünf Erdteilen gewirkt hatte, im Jahr 2006 starb, vermachte er seine Privatbibliothek mit über 10.000 Bänden seiner alten Schule). Der Lehrstoff wurde erstaunlich zügig bewältigt, denn alle hatten nur ein Ziel: möglichst schnell die im Krieg verlorene Zeit aufzuholen, um mit dem Reifezeignis ins langsam erwachende Leben zu treten.

Dabei hatten wir älteren Prüflinge (der älteste war ein 32jähriger Major a.D. und Träger des „Deutschen Kreuzes“ in Gold) bereits ein Abitur in der Tasche. Das sogenannte „Notabitur“ mit Berechtigung zum Studium war uns Oberschülern der Jahrgänge 1923 bis 1928 im Krieg „nachgeworfen“ worden, wenn wir zur Flak oder zur Wehrmacht eingezogen wurden. Nach dem Krieg stellte sich dieser „Reifevermerk“ als wertloser „Wisch“ heraus, und die Prüfung mußte nachgeholt werden. Es gab sogar Pechvögel, die es auf gleich drei Reifezeugnisse brachten: wer später in den Westen ging, wo das vorher in der Sowjetzone nachgeholte Abitur nur bis zum Stichjahr 1949 anerkannt wurde, mußte sich ein drittes Mal dem Examen unterziehen.

Die Bilanz des einfach, doppelt oder gar dreifach genähten Abiturs in den schweren Nach-kriegsjahren fiel bei den Klassentreffen zum „Goldenen“ und „Diamantenen Abitur“ nach der Wiedervereinigung durchweg positiv aus. Aus allen war „was geworden“. Der Oelsnitzer Abiturjahrgang 1948 stellte gleich fünf Professoren, 16 Doktoren und Ehrendoktoren und einen Nationalpreisträger. Rang eins stand mit einer Nominierung für den Nobelpreis unan-gefochten unserem Klassenkameraden Eberhard Zeitler aus Bad Elster zu, der erst einmal Bäcker gelernt hatte, ehe aus ihm ein angesehener Medizinprofessor und hochkarätiger Wis-senschaftler mit weltweit anerkannten Pionierleistungen zur Herzkatheteruntersuchung wurde. Als ein personifizierter Treppenwitz der Schulgeschichte mußte ausgerechnet er damals fürs heiß begehrte Abitur noch eine „Ehrenrunde“ drehen. Aber vielleicht hatte er ja auch nur den seit Generationen beliebten Übersetzungssatz aus der Unterstufe Latein zu wörtlich genom-men: „Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir.“

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