Für den kräftigen Marsch, der den Deutschen nach dem Krieg von den Siegern geblasen werden sollte, mussten die Verlierer auch noch selber die Pauken und Trompeten stellen, jedenfalls bei den Russen. Als Reparation verlangte die Sowjetunion von 1946 bis 1949 die Lieferung von über 50.000 Musikinstrumenten aus ihrer Besatzungszone, darunter die kompletten Ausstattungen für 500 Blasorchester. Helmar Meinel beobachtete damals die Transporte.
Schauplatz der musikalischen Zwangsvollstreckung war der sogenannte Musikwinkel im idyllischen Vogtland mit den Städtchen Markneukirchen und Klingenthal an der tschechischen Grenze im südlichsten Zipfel der Ostzone. Dort, wo seit dem 17.Jahrhundert der Instrumentenbau Namen und Klang hatte und in nahezu jedem Haus von Generation zu Generation weitervererbt wurde, lag das künstlerische Handwerk 1945 völlig am Boden. Vom einstigen Glanz Markneukirchens, der um 1900 im Verhältnis zur Einwohnerzahl reichsten Stadt Deutschlands mit vielen Millionären und einem eigenen US-Konsulat für die regen Exportbeziehungen, war fast nichts geblieben. Vorbei die Zeiten, als aus dem Musikwinkel 80 Prozent aller in der Welt gespielten Orchesterinstrumente kamen.
Die Meister waren im Krieg gefallen, saßen in Gefangenschaft oder hatten sich schon in den Westen abgesetzt, als sich im Sommer 1945 die Amerikaner vereinbarungsgemäß aus dem Vogtland nach Bayern zurückzogen und die Rote Armee mit Pferd und Panjewagen nachrückte. Die neuen Besatzer mit ihrer kindlichen Freude am Musizieren, aber auch der Wertschätzung der künstlerischen Arbeit der Instrumentenbauer als Teil der “Kultura” kümmerte die desolate Lage des Gewerbes nicht. Die Reparationsorder für Markneukirchen lautete: Ablieferung von jährlich 3000 Gitarren, 2000 Mandolinen, 500 Balalaikas, 500 Domras (das sind dreisaitige russische Zupfinstrumente) und, schier unmöglich, die komplette Ausstattung von 125 Blasorchestern zu je 23 Instrumenten von der Tuba bis zur Piccoloflöte. Aus Klingenthal kamen Tausende Exemplare des beliebtesten russischen Volksinstruments, der Ziehharmonika, hinzu.
Die Russen waren keineswegs auf industrielle Massenware aus, sondern verlangten höchste Qualität. In den meist als Familienunternehmen geführten Werkstätten fehlte es jedoch an allen Ecken und Kanten. Es gab kein Edelholz, kein Buntmetall und kein neues Werkzeug. Die Genossenschaft der Musikstadt musste eigens einen Beschaffer, einen “Materialnik”, einstellen. Die Wahl fiel auf den umsichtigen Heimkehrer Herbert Roth, der dann in der gesamten Ostzone herumgeisterte, um etwas zu ergattern. Wenn er von der vorgesetzten Dienststelle der Sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD) in Berlin-Karlshorst oder in Dresden Beistand wollte, stieß er auf ein spezielles System, um sich Bittsteller vom Leibe zu halten. Die Russen hatten sich nämlich nicht nur die Einführung der Weltrevolution in ihrer Zone vorgenommen, sondern auch noch gleich eine weitere Geisel der Menschheit erfunden: die erste “Hotline” der Geschichte. Wie sie funktionierte, schilderte der 2009 verstorbene Zeitzeuge Roth in seinen nachgelassenen privaten Aufzeichnungen:
“An der Hauswand des Gebäudes – wir sprachen damals von der Klagemauer – hingen ein paar Telefonhörer, und damit musste man sich einen Gesprächspartner im Gebäude suchen, was aufgrund der Sprachschwierigkeiten nicht ganz leicht war. Nun lag es in dessen Gunst, vom Einlassdienst einen Passierschein ausfertigen zu lassen. Darauf konnte man bei Wind und Wetter nochmals eine Stunde oder länger warten. Hatte man den Zutritt erreicht, erhielt man bestenfalls einen Bezugschein für eine bestimmte Menge Buntmetall, und das war weiter nichts als ein Stück wertloses Papier.”
Den regelmäßigen Lieferterminen sahen die deutschen Zwangsproduzenten im Vogtland stets mit höchster Anspannung entgegen. Herbert Roth fasste es in einem Satz zusammen: “Die Prüfer konnten sehr gefährlich werden!” Die Russen fuhren mit großen, oft offenen Armeelastwagen mit einem Offizier und vier bis fünf Rotarmisten vor. Die Sichtung der Ware erfolgte in Stichproben und war sehr penibel. Einer der Offiziere, vom Gemüt klassischer russischer Choleriker, pflegte, wie sich Roth noch 50 Jahre später aufregte, beanstandete Instrumente zornentbrannt und fluchend auf den Fußboden zu werfen und mit seinen Stiefeln im Stakkato zu Kleinholz zu zerlegen, auch wenn sie vielleicht nur einen kleinen Lackschaden aufwiesen. “Stalinorgel” war der heimliche Spitzname dieses Wüterichs.
Für den weiten Transport der empfindlichen Instrumente waren die Russen weniger pingelig. Sie verlangten weder die üblichen Etuis noch Kisten, sondern schichteten die Mandolinen oder Gitarren einfach in Papiersäcken akkurat Reihe für Reihe auf die Lastwagen und legten obendrauf lediglich eine Lage Wellpappe. Als Krönung der sowjetischen Verpackungskunst machte es sich für die Fahrt dann manchmal noch ein robuster Rotarmist auf den Instrumenten gemütlich – nicht ohne die geschröpften Deutschen mit einem zu Herzen gehenden Abschiedslied des Genres “Kalinka, Kalinka…” und manchmal sogar einem Salutschuss aus seiner Kalaschnikow zu verwöhnen. “Mandolinenbomber” nannten wir damaligen Oberschüler diese Gefahrentransporte, auf denen uns die Russen schon mal großmütig als „Fahrschüler“ mit in die Kreisstadt nahmen.
Höhepunkt der Übergabezeremonie war immer die “Weihnachtsbescherung”. Der Kommandoführer, schilderte Roth die bewegende Zeremonie, öffnete eine streng bewachte dicke Ledertasche und kippte den Inhalt auf den Tisch: 50.000 bis 60.000 mehr oder weniger wertlose alte Reichsmark und später Ostmark gab es als Almosen für die Instrumentenbauer – damit es nicht ganz so nach sozialistischer Ausbeutung aussah. Die gelieferten Instrumente waren in der Regel das Zehnfache, auf dem schwarzen Markt noch viel mehr wert.
Die letzte Lieferung der Schnäppchen aus dem Musikwinkel ging 1949 in die Sowjetunion. Nach der Gründung der DDR im Oktober dieses Jahres verzichtete Moskau auf die Reparationen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2001, schloß sich für mich als Urlauber und ehemaliger Zeitzeuge der musikalischen Kriegsbeute aus dem Vogtland zufällig der Kreis. Als das Kulturensemble der russischen Schwarzmeerflotte auf dem in Sewastopol ankernden deutschen Kreuzfahrtschiff MS “Europa” für gute Devisen vom ehemaligen Klassenfeind ein glanzvolles, umjubeltes Konzert gab, konnte ich in der Pause an einigen der abgestellten und gut gepflegten Instrumente eindeutig Markneukirchener Brand- oder Prägestempel und sogar Meisterzettel entdecken.
Hier gibt es bei Wikipedia mehr Informationen über den Kölner Autor Helmar Meinel!